Was haben unsere Muskeln mit unserem Immunsystem zu tun? Eine ganze Menge. Denn Muskeln sind mehr als nur Kraftpakete. Unsere Muskelmasse ist ein Organ, das mit anderen Organen kommuniziert und Heilprozesse anstößt und so unseren Körper schützt .
Ihre Aufgabe ist hinlänglich klar:
Ohne Muskeln heben wir kein Stückchen Brokkoli vom Teller. Aber nicht nur das.
Unser gesamter Organismus ist auf sie angewiesen. Nur sie produzieren einen Zauberstoff, der unsere Körperwelt im Innersten zusammenhält:
Myokine. „Myokine sind enzymähnliche Botenstoffe, die im Körper herumwandern, alle inneren Organe stimulieren und die Aktivität des Gehirns beeinflussen“, erklärt Professor Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule Köln. „Sie lösen Funktionen aus, die ohne sie niemals stattfinden würden.“ Aber sie werden nur dann aktiv, wenn der Muskel arbeitet.
Entdeckt wurden sie von der dänischen Forscherin Bente Klarlund Pedersen. Sie untersuchte an der Universität von Kopenhagen, welchen Einfluss Sport auf das Immunsystem hat. Nach dem Training maß sie im Blut der Probanden den Anstieg einer Substanz, die hilft, Entzündungsreaktionen im Körper zu regulieren und in der Wissenschaft als Interleukin 6 (IL-6) bekannt ist. Das entdeckte IL-6 wurde aber nicht von den Immunzellen produziert – sondern von den Muskelzellen!
Deshalb gab Pedersen ihnen den Namen „Myokine“ – abgeleitet von den griechischen Wörtern für „Muskel“ und „Bewegung“. Das war vor 14 Jahren und seitdem sind WissenschaflerInnen damit beschäftigt, das weite Feld der Myokine zu sondieren und deren segensreiche Wirkung für unseren Organismus zu analysieren.
„Wir kennen mittlerweile einige Hundert, gehen aber von wenigen 1000 Arten und Formen aus“, so Froböse. Die einen, wie die am besten erforschte Myokin-Untergruppe, die Interleukine, fördern Aufbau und Qualität unseres Immunsystems, schützen vor Diabetes und Herzinfarkt und den „stillen Entzündungen“, die Arteriosklerose und Krebs auslösen können.
Andere fördern die Neubildung von Knochen und verbessern deren Stabilität und Dichte, was Osteoporose vorbeugt. Allen gemeinsam ist, dass sie von der arbeitenden Muskulatur hergestellt werden, eine entscheidende Rolle bei Stoffwechselprozessen spielen und, so Froböse, „selbst in jeder einzelnen Zelle der Garant für deren Lebensqualität und vor allem deren Erhaltung spielen.“ Das heißt: Je mehr ich meine Muskeln beanspruche, desto mehr Myokine sorgen dafür, dass meine Zellen perfekt und ausdauernd für mich arbeiten.
Auch im Gehirn. Dort stimuliert das BDNF-Myokin I (Brain Derived Neurotrophic factor) den Wachstumsfaktor im Hippocampus, neue Neuronen und Synapsen entstehen, was das Erinnerungs- und Lernvermögen fördert. „Das ist besonders wichtig für Kinder, weil sie durch Bewegung deutlich besser lernen“, so Froböse.
Doch auch Menschen mit Depressionen, Angststörungen oder ADHS profitieren vom Sporttreiben, da bei ihnen meist ein zu niedriger BDNF-Gehalt im Blut vorliegt.
Grundsätzlich weisen körperlich aktive Menschen dauerhaft eine höhere BDNF- Konzentration auf, was möglicherweise vor Demenz-Erkrankungen schützt.
Klarer Fall also: Runter von der Corona-Couch!
Doch welcher Sport eignet sich am besten, um die Myokin-Produktion anzuregen?
„Entscheidend ist der Muskelmassenaufbau“, sagt Professor Froböse.
„Dabei geht es nicht um Bodybuilding, sondern um den Erhalt der Muskelmasse als aktive Zellmasse in unserem Körper. Wir setzen damit einen Gegenpol zum Fettgewebe.“ Das klingt gut!
Und der Experte setzt noch einen oben drauf: „Der Erhalt der Muskelmasse wirkt sich zudem positiv auf den gesamten Hormonstoffwechsel aus, und auf dessen Gaspedal, die Schilddrüse. Denn sie gibt Gas und der Motor, die Muskulatur, springt an.
Dieses Zusammenspiel funktioniert ein Leben lang – wenn wir unsere Muskeln trainieren!“ Ausdauersportarten – laufen, radeln, schwimmen – sind zwar nicht unmittelbar mit Muskelwachstum verbunden, dienen AnfängerInnen jedoch als Einstieg ins Muskeltraining.
Grundsätzlich gilt: „Trainieren Sie mit dem eigenen Körpergewicht, dadurch bekommen Sie mehr Hubraum und das ist es, was Sie brauchen.“ Das geht gut mit Geräten im Fitnessstudio und in Gymnastikkursen mit hohem Anteil an Muskeltraining wie Pilates oder FLEXVIT Bändertraining, aber ebenso daheim im Homeoffice oder im Freien.
Ab 35 geht’s mit den Muskeln bergab.
Wirklich?
Tatsächlich verlieren wir ein Prozent Muskelmasse im Jahr. Doch das liegt weniger am Alter als vielmehr daran, dass wir zu wenig tun. „Viele junge Menschen haben ihre Muskulatur nicht ausreichend aufgebaut, was sich durch unsere vorwiegend sitzende Lebensweise verschärft.“ Richtig problematisch kann es werden, wenn wir das achte Lebensjahrzehnt erreichen: „Wir gehen davon aus, dass 75 Prozent aller über 70-Jährigen an Sarkopenie leiden, ein durch ein gestörtes Zusammenspiel von Nerven und Zellen verursachten Muskelschwund.“ Woher das rührt, weiß die Medizinwissenschaft noch nicht genau. Aber wir können gegensteuern!
„Je älter wir werden, desto mehr müssen wir dafür tun, dass die Muskelmasse erhalten bleibt“,so Froböse.
„Das Motto lautet: Je oller, je doller.“
Das gilt für das sportliche Training, aber auch für den Alltag. Die Muskulatur hat nämlich zwei verschiedene Fasertypen, rote und weiße. Die roten sind die, die man im Alltag bei leichten Lasten, beim Schreiben, Essen, Aufräumen etc. nutzt.
Diese sind auch bei alten Menschen immer noch gut vorhanden.
Welche primär verloren gehen, sind die weißen Muskelfasern, sie sind .schlechter durchblutet und werden bei größeren Belastungen gebraucht, beispielsweise wenn wir schwere Lasten heben, im Garten Pflanzensäcke schleppen und Hochbeete bauen.
Prof. Ingo Froböse: „Da reden sich dann viele heraus und sagen, das kann ich nicht mehr.
Aber das ist falsch!
Trauen Sie sich zu, auch wieder schwerere Lasten zu heben!“
Das lakonische Fazit des Experten: „Use it or lose it…“ Myokine als Helfer in der Rehabilitation und Krebstherapie.
Nach langer Bettlägerigkeit, nach Operationen, nach überstandener Covid-19-Erkrankung sind wir vor allem eins: schlapp. Wir brauchen unsere Muskeln dringender denn je.
Nur sie lassen uns Taschen tragen, Wege zurücklegen, Freunde besuchen, reisen, unseren Wünschen und Interessen nachgehen. „Wir machen mobil, indem wir die Muskeln trainieren“, so Froböse. „Dadurch wird die Teilhabe am Leben wieder ermöglicht.“ Das gilt auch und besonders in der Krebsbehandlung. „Wir stellen aber gerade hier einen rapiden Muskelschwund fest.“
Das ist in doppelter Hinsicht dramatisch. Denn das im Muskel hergestellte Myokin Interleukin IL6 spielt eine wichtige Rolle im Kampf gegen den Krebs: Es lotst die im Nebennierenmark und in bestimmten Nervenzellen gebildeten Killerzellen zum Tumor und bewirkt, dass sie das krank machende Gewebe angreifen. Zudem brauchen gerade Krebspatienten den durch Myokine angeregten Stoffwechsel, um die Folgen der Chemotherapie abzufedern.
Die Sporthochschule Köln hat deshalb gemeinsam mit der Uniklinik ein Muskeltraining für Menschen in oder nach Krebstherapien eingerichtet.
Froböse: „Dort setzen wir sie an die Geräte, damit sie ihre individuelle Leistungsfähigkeit wieder erhalten.“ Und dabei sollten wir unseren Muskeln vertrauen. Sie haben ein Gedächtnis, sie wissen, was sie mal konnten. Je zeitiger wir also anfangen, mit ihnen zu arbeiten, je schneller können wir sie im Ernstfall wieder aufbauen.
Besser, als bei Null anfangen zu müssen.